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Berliner S-Bahn

Vor 1945

Bei der Baureihe ET 165 handelte es sich um knapp 36 Meter lange sogenannte Viertelzüge, die aus je einem elektrischen Triebwagen und einem antriebslosen Steuerwagen bestanden. Bei den letzten Lieferungen wurden die Steuerwagen durch Beiwagen ersetzt. Bis zu vier dieser Viertelzüge konnten zu einem rund 145 Meter langen Vollzug gekuppelt eingesetzt werden, der eine Platzkapazität von ungefähr 1000 Sitz- und Stehplätzen und ein für damalige Verhältnisse gutes Beschleunigungs- und Bremsvermögen aufwies.

Die Konstruktion basiert auf der Baureihe ET 168 (Bauart Oranienburg) aus dem Jahr 1925. Oberstes Ziel war hierbei die Herabsetzung des Leergewichtes, da die Oranienburger mit etwa 45 Tonnen für den Trieb- und 36 Tonnen für den Steuerwagen für den Stadtbahnbetrieb mit häufigem Halten und Wiederanfahren viel zu schwer ausgefallen war. Man konnte die neuen Fahrzeuge durch den Einsatz wesentlich dünnerer, aber aus hochfestem Siliziumstahl hergestellter Profile leichter ausführen (etwa 38 Tonnen beim ET und 27 Tonnen beim ES), außerdem ließen sich zum ersten Mal die Türen vom Führerstand aus schließen. Mit diesen Wagen begann der großflächige Ausbau des elektrifizierten Stadtbahnnetzes in Berlin. Die Fahrzeuge wurden nach einheitlichen Plänen von vielen namhaften Waggonbaufirmen gebaut und in dem eigens für die neuen S-Bahn-Triebwagen damals neu erbauten Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide elektrisch ausgerüstet. Am 11. Juni 1928 fuhr zum ersten Mal diese Baureihe auf der neu elektrifizierten Strecke von Potsdam über die Stadtbahn nach Erkner und wurde dementsprechend auch als Bauart Stadtbahn bezeichnet. Bis Ende 1933 entstanden insgesamt 1276 Einzelwagen.

Im Jahr 1932 erfolgte anlässlich der Elektrifizierung der Wannseebahn die Lieferung des letzten Bauloses mit 51 Viertelzügen. Diese Baureihe ET 165.8 erhielt den Namen Bauart Wannseebahn. Sie entsprach bis auf ein geändertes Schaltwerk (jetzt rein elektrisch angetrieben) und einen Wagenkasten ohne sichtbare Nietreihen (Senknietung in Verbindung mit Punktschweißung dünnerer Verkleidungsbleche) der Stammbaureihe ET 165.

Charakteristisch für den Ursprungszustand dieser Baureihe war die Frontansicht mit einem weißen Spitzensignal (Scheinwerfer) in der Mitte und dem beleuchteten Zielschildkasten sowie den zwei roten Oberwagenlaternen als Schlusssignal. Zur Darstellung des Falschfahrsignales Zg 102 für Fahrten auf dem Gegengleis besaßen die Züge zusätzlich noch ein kleines rotes Signallicht unter dem weißen Frontsignal, das aber in den Nachkriegsjahren entfernt wurde. Die klassische Frontansicht dieser Baureihe blieb bei den meisten Zügen bis Ende der 1960er Jahre erhalten. Die Nachfolgebaureihen ab 1934 (ET 125, ET 166 und ET 167) hatten bereits zwei große Frontscheinwerfer, die entweder ein Zwei-Licht-Spitzensignal oder ein Zwei-Licht-Schlusssignal zeigen konnten.

In den Jahren des Zweiten Weltkrieges wurden die verbliebenen Steuerwagen durch Ausbau der Führerstandseinrichtungen zur Materialgewinnung ebenfalls in Beiwagen umgebaut. Die charakteristischen dreiteiligen Stirnwände – die reinen Beiwagen hatten eine gerade Stirnwand – blieben dabei erhalten. Im Inneren hatten diese Beiwagen am Betriebskuppelende nur eine Sitzbank und kein besonderes Abteil hinter dem Einstiegsraum. 1981/1982 wurden drei ehemalige Steuerwagen (275 320, 354 und 514) wieder mit Führerständen ausgerüstet und dem Bw Wannsee zugeordnet, um erneut einzelne Viertelzüge ab etwa 21:00 Uhr auf der Spätverbindung Friedrichstraße–Charlottenburg einsetzen zu können, nachdem die für diese Zwecke bisher genutzten Viertelzüge der Bauart Peenemünde (276.0) in das Reko-Programm der Baureihe 277 einbezogen wurden und danach im Ostteil Berlins verblieben (zuletzt 477/877.6).

 

Nach 1945

Zehn Prozent des Wagenparkes waren nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört. Weitere Fahrzeuge verblieben zum Kriegsende im Raw Schweidnitz (dort zur Ausbesserung weilend); die PKP brachten die Fahrzeuge später ins ehemalige Raw Lauban zur Aufarbeitung für die neu errichtete Danziger Schnellbahn, wo ab 1950 bis zum 18. Dezember 1976 insgesamt 54 Viertelzüge verkehrten, oder als Reparationsleistungen in die Sowjetunion, wo sie auf Russische Breitspur von 1524 mm umgebaut wurden (SŽD-Baureihe ЭМ-165). In beiden Fällen wurden die Stromschienen- durch Dachstromabnehmer ersetzt.[1][2] 60 Viertelzüge fuhren in Moskau mit einer Fahrleitungsspannung von 1500 Volt und daher ständig reihengeschalteten Motoren. Vermutlich auf Grund dieser, einen wirtschaftlichen Betrieb erschwerenden Verhältnisse, wurden sie 1952/53 nach Berlin zurückgegeben.[3] In Kiew (Ukrainische SSR) fuhren 13 Viertelzüge bis 1955, im estnischen Tallinn acht Viertelzüge und ein Teil der Kiewer Züge darüber hinaus bis 1958.[4] Der ET 165 636 verblieb nach dem Krieg bei der Deutschen Bundesbahn.

Von 1965 bis 1969 (und in einer zweiten Serie 1979) wurde ein großer Teil der Stadtbahner auf Einmannbetrieb (EMB) umgebaut. Die Führerstände erhielten Funkstationen, über die der Abfahrauftrag der Aufsichten von den Bahnsteigen übermittelt werden konnte. Der bislang noch notwendige Schaffner, der während der Abfahrt an der Tür stand und den Zug und die Bahnsteigaufsicht zu beobachten hatte, konnte entfallen. Beim Umbau wurden die vorher sehr beengten Führerstände vergrößert. Hierbei mussten im Fahrgastraum vier Sitzplätze an der Führerstandsrückwand entfallen, um diese nach hinten versetzen zu können. Äußerlich waren die Einmannzüge (EMB-Viertel) an den je zwei Spitzen- und Schlusslampen mit Alurahmen der Standardbauart in den Stirnwänden, die auch bei den elektrischen Lokomotiven der Reihen E 11 und E 42 verwendet wurden, und der Antenne für die Abfertigung per Funk zu erkennen.

Etwa ein Viertel des Bestandes erhielt nur eine minimale Anpassung an den Einmannbetrieb (durchlaufende Steuerleitungen) ohne äußerlich sichtbare Veränderungen. So konnten diese Passviertel im Einmannbetrieb nur in Zugmitte verkehren. Erst bei der Rekonstruktion bzw. bei der Generalreparatur (das betraf die 1984 an die BVG abgegebenen Wagen) erhielten sie die volle Einmannausrüstung.

Ab 1979 erfolgte nach dem Vorbild der Baureihe 277 im Raw Schöneweide eine Rekonstruktion etwa der Hälfte des Wagenbestandes (212 Viertelzüge) der 1970 umbenannten Baureihe 275. Kurze Zeit später wurden diese auch als Nietenrekos bekannten Wagen als Baureihe 276.1 in den Wagenpark eingereiht.[5] Auffälligstes Merkmal war eine neue Front ohne die bisherigen, senkrechten Knicke mit zwei Scheiben, die den Triebwagen von vorn ein deutlich zeitgemäßeres Aussehen gaben, und die modernisierte Inneneinrichtung. Die Stirnfront der ehemaligen Steuerwagen wurde dabei zunächst nicht verändert. Erst bei den in den 1980er Jahren rekonstruierten Viertelzügen passte man diese Fronten den regulären Beiwagen an und gewann zusätzlich vier Sitzplätze (außer beim späteren 876 317).

Mit der Übergabe der Betriebsrechte der S-Bahn in West-Berlin an den Senat im Jahr 1984 konnte der neue Betreiber, die BVG, 119 Viertelzüge übernehmen. Im Jahr 1961 waren dagegen noch 379 Viertelzüge in West-Berlin stationiert. Bis 1987 wurden die Wagen zum größten Teil ebenfalls modernisiert, aber nicht im gleichen Umfang wie im Ostteil der Stadt. Zwölf Passviertel, deren Beiwagen ehemalige Steuerwagen waren, wurden dabei wieder zu Steuervierteln aufgerüstet, sie erhielten die volle EMB-Ausrüstung in beiden Führerständen. Auffallend für Laien war die neue Inneneinrichtung dieser Züge. Die Holzbänke waren aber bei den meisten Wagen noch vorhanden und wurden aufgearbeitet weiter verwendet. Ursprünglich war die weitere Verwendung der Holzsitze als Kompromiss vorgesehen. Überraschenderweise waren sie bei vielen Fahrgästen sehr beliebt und erlangten bald Kultstatus. Im Rahmen mit der Zusammenführung von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn zur Deutschen Bahn am 1. Januar 1994 gab die BVG ihre Betriebsrechte und ihre Züge an die Deutsche Bahn ab. Ein Jahr später wurde die S-Bahn Berlin GmbH gegründet.

Zum Dezember 1995 endete aufgrund eines fehlenden Dauerverschlusses der Fahrgasttüren der Einsatz auf den Strecken des Nord-Süd-Tunnels. Die Umläufe wurden fortan von Rekotriebzügen der Reihe 476.3 übernommen. Ihr Einsatz dort endete im Dezember 1998 aufgrund fehlender Feuerlöscher im Fahrgastraum und fehlender Überwachungseinrichtung der Fahrgasttüren. Am 21. Dezember 1997 wurde die Baureihe 475/875 mit einer Sternfahrt zum Ostkreuz feierlich aus dem Verkehr genommen. Die rekonstruierte Schwesterbaureihe 476.0 war bis zu einer Entgleisung im Bahnhof Zoologischer Garten im Sommer 2000 im Betrieb.

Mit der Baureihe ET 165 wurde damals die Vorbildfunktion der Berliner S-Bahn auf viele Stadtschnellbahnprojekte der Welt begründet. Ihre Konzeption und Konstruktion, insbesondere hinsichtlich Einfachheit der Bedienung, Unter- und Erhaltungsfreundlichkeit, Standfestigkeit und Wirtschaftlichkeit, bewährte sich so gut, dass sie mit diversen Umbauten rund 70 Jahre im täglichen Einsatz war.

Allerdings war die Haltbarkeit der Baureihe ET 165 das Resultat kostspieliger Anpassungen, hauptsächlich in den 1930er Jahren. Die größten Mängel der ersten Jahre betrafen folgende Bauteile:

  • Der verkehrswerbende Außenanstrich verwitterte sehr schnell und die Züge wurden rasch unansehnlich. Da die Farbhersteller nicht genügend schnell zu Verbesserungen in der Lage waren, führte die DR selbst umfassende Entwicklungen und Versuche durch, bis ein haltbarer Lack gefunden war. In der Folge lackierte das Raw Schöneweide sämtliche neu angelieferten Wagen, die von den Herstellern nur grundiert worden waren, in eigener Regie.
  • Die Holzschiebetüren verzogen sich unter den Witterungseinflüssen, klemmten und mussten bereits nach wenigen Jahren durch Metallschiebetüren ersetzt werden. Dieses Programm zog sich für den Großteil der Züge bis in die 1960er Jahre hin. Die letzten originalen Holztüren wurden gar erst durch die BVG im Westteil der Stadt Mitte der 1980er Jahre ausgetauscht.
  • Sämtliche Viertelzüge wurden zwischen 1934 und 1936 mit einer elektropneumatischen Steuerung der Druckluftbremse nachgerüstet. Es hatte sich gezeigt, dass die übliche einlösige Knorr-Bremse im S-Bahn-Betrieb Zielbremsungen zu sehr erschwerte. Das liegt vor allem daran, dass diese Bremsbauart erschöpfbar ist. Das heißt, mit dem Auslösen der Bremse wird der verbrauchte Luftvorrat nicht sofort wieder vollständig ersetzt, so dass für eine unmittelbar anschließend eingeleitete Bremsung nur ein geringeres Volumen zur Verfügung steht. Es kann somit bei mehrmaligem Bremsen kurz hintereinander, zu einem Zustand kommen, bei dem die erforderliche Bremswirkung nicht mehr erreicht wird. Deshalb wurde eine elektropneumatische Steuerung der Druckluftbremse nachgerüstet. Damit verfügten diese Fahrzeuge über eine zweite Bremse, die mehrlösig und nicht erschöpfbar ist – aber sie wirkt auch nicht selbsttätig. Die elektropneumatische Bremssteuerung erleichterte den Triebfahrzeugführern die Arbeit sehr. In diesem Zusammenhang wurde in den Führerständen das bis dahin vorhandene Führerbremsventil Knorr Nr. 5 gegen das St 113 ausgetauscht. Es verfügt über einen zusätzlichen Klinkhebel. Damit konnte der Triebfahrzeugführer wahlweise sowohl die pneumatisch gesteuerte, einlösige, selbsttätige Druckluftbremse als auch die elektrisch gesteuerte, mehrlösige, unerschöpfbare Druckluftbremse bedienen.
  • Bereits Mitte der 1930er Jahre mussten an sämtlichen Drehgestellen Grundüberholungen mit Verstärkungen durchgeführt werden, erzwungen durch gelockerte Nietverbindungen und Risse.
  • Nachrüsten sämtlicher Wagen mit Dämpfungspuffern zwischen den Wagen eines Viertelzuges: Der schlingernde Lauf im geraden Gleis war nicht zufriedenstellend und führte zu Beschwerden der Fahrgäste, die ein solches Fahrverhalten von neuen Fahrzeugen nicht erwarteten.

Erst diese Ertüchtigungen, Reparaturen und Anpassungen erhöhten die Zuverlässigkeit der Stadtbahner. Später kamen wesentliche Bauteile ausgemusterter Wagen auf der heutigen Berliner U-Bahn-Linie U5 zum Einsatz, wo sie mit neugebauten Wagenkästen, aber den alten elektrischen und mechanischen Komponenten als Baureihe EIII bis 1994 verkehrten.